Die Bedeutung der katholischen Migrantengemeinden II
- Soziale Unterstützung im Kontext der Migration
- Eine pastorale Frage
Weshalb integriert sich ein Teil der christlichen Migrantinnen und Migranten eher in Migrationsgemeinden anstatt in die bestehenden kirchlichen Strukturen?
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- Migrationsgemeinden als Quelle für Ressourcen
Viele Migrationsgemeinden sind auf die Bedürfnisse von Migrantinnen und Migranten spezialisiert. Sie vermitteln Ressourcen, die bei der Bewältigung von Herausforderungen hilfreich sein können. Hierzu gehören sowohl materielle und informationelle Ressourcen wie auch psychische oder spirituelle Ressourcen (z.B. Trost, Gemeinschaftsgefühl oder Lebenssinn).
- Materielle Unterstützung (Hilfe bei Umzug, Darlehen, Job)
- Informationelle Unterstützung (Wer? Wie? Was? Wo?)
- Emotionale Unterstützung (Geborgenheit, Heimatgefühl, Wertschätzung)
- Spirituelle Unterstützung (Lebenssinn, „etwas Sinnvolles tun“, Weiterbildung)
- Gemeinschaft (Familienersatz, Freunde, Sicherheitsgefühl, Zugang zu sozialen Netzwerken, „Vitamin B“)
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- „Türöffner“ und „soziale Rezeptoren“ vereinfachen die Integration in die Gemeinde
Eine Herausforderung besteht darin, dass ein Großteil dieser Ressourcen über soziale Beziehungen vermittelt wird. Hierfür sind zwei Arten von Gemeindemitgliedern von großer Bedeutung: „Türöffner“ und „soziale Rezeptoren“.
Türöffner sind Personen, die auf neue Besucher zugehen, mit ihnen reden und das Eis brechen, damit ein erster Kontakt zur Gemeinde entsteht. Soziale Rezeptoren hingegen sind Personen, die mit den Neulingen soziale Beziehungen eingehen und diese auch über die kirchlichen Aktivitäten hinaus pflegen.
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- Weshalb christliche Migrationsgemeinden?
Den meisten Migrantinnen und Migranten gelingt die soziale Vernetzung am einfachsten in Gemeinden, die ihnen in soziokultureller, religiöser und sprachlicher Hinsicht ähnlich sind.
Dies ist ein wichtiger Grund dafür, weshalb sich ein Teil der christlichen Migrationsbevölkerung einfacher in Migrationsgemeinden integriert als in kirchliche und säkulare Netzwerke der Aufnahmegesellschaft. Zudem besitzen viele „Einheimische“ bereits einen „gesättigten“ Freundeskreis. Beides erschwert Zuwanderern den sozialen Anschluss.
- Religion: Sinn und Orientierung in Zeiten des Umbruchs
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- Migration als Abbruch des Bisherigen
Migration bedeutet Aufbruch, Abbruch und Neuanfang. Vertrautes wird zurückgelassen, Unbekanntes gilt es zu erschließen und Ungewissheiten auszuhalten. Die Betroffenen müssen nicht nur ihr Leben neu ordnen, sondern immer wieder auch schwierige Erlebnisse und Erfahrungen meistern. Religion kann in solchen Zeiten zu einem Ankerpunkt und einer Quelle der Ermutigung werden.
Die Veränderung des Lebenskontexts führt zu sprachlichen, kulturellen, sozialen, familiären, beruflichen, alltagspraktischen, aber auch religiösen Erfahrungen von Diskontinuität. Die Konfrontation mit einer anderen Realität, mangelnde Zukunftsperspektiven und Schicksalsschläge erfordern Strategien der Be- und Verarbeitung.
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- Religion als Ressource
Religion ist spezialisiert auf den Umgang mit Brucherfahrungen, welche die Frage nach dem „Warum“ aufwerfen. Im Rückgriff auf Transzendenz bietet sie Sinnstiftung, Sicherheit, Trost und Beheimatung an.
Menschen erfahren Migration ganz unterschiedlich und nutzen auch ihre Religiosität im Umgang damit auf vielfältige Weise. Herkunft, familiäre Prägung, Erlebnisse sowie eine im Verlauf des Lebens entwickelte persönliche „Logik“ spielen dabei eine wichtige Rolle.
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- Vier Typen religiöser Verarbeitung von Migrationserfahrungen
Transformativer Typ – man bezieht seine Lebens- und Glaubensdeutung auf einen göttlichen Plan
Brucherfahrungen sind konstitutiv für die Biographie. Das Individuum sieht und erfährt in allem eine göttliche Fügung und Führung einen tieferen Sinn. Es sucht nach seiner Bestimmung und deutet sein Leben aus einer religiösen Perspektive.
Restitutiver Typ – man bezieht seine Lebens- und Glaubensdeutung auf einen sicheren Grund
Brucherfahrungen erzeugen biographische Irritationen. Das Individuum findet in der vertrauten Religionsgemeinschaft einen Ort zur temporären Wiederherstellung von Kontinuität. Das Leben wird als fragmentiert erlebt. Die religiöse Perspektive bietet dazu eine Möglichkeit.
Adaptiver Typ – man bezieht seine Lebens- und Glaubensdeutung auf eine Horizonterweiterung
Brucherfahrungen können zu einem biographischen Gewinn werden. Das Individuum nimmt die Konfrontation mit dem kulturell und religiös Anderen als Lernherausforderung an. Das Leben wird aus dieser integrativen Perspektive als Prozess des Werdens und Sich-Veränderns betrachtet.
Akzeptierender Typ – man bezieht seine Lebens- und Glaubensdeutung auf „So ist das Leben“
Brucherfahrungen gehören zum Leben. Das Individuum macht das Beste aus seiner Situation. Die Perspektive auf das Leben orientiert sich an persönlichen Lebensprioritäten. Religion bleibt marginal und wird im Lebensalltag nicht aktiviert.
(Quelle: Publikationen des Schweizer Sozialpastoralen Instituts St. Gallen)